Hüttenwanderung in der Heimat der Riesen
„Pack auf jeden Fall für deine Reise nach Norwegen eine anständige Regenkleidung ein.“ An diese Worte musste ich denken, als ich mit dem Fernbus auf dem Weg zu unserem Startpunkt, der Herberge Gjendesheim am See Gjende war. Eine Woche Wanderung im Jotunheimen-Nationalpark, und der Regen war seit Oslo mein ständiger Begleiter.
Nach einem ausgezeichneten Abendessen, einer geruhsamen Nacht im Lager und einem opulenten Frühstücksbuffet starteten wir (Gudrun, Oliver, Hund Shaggy und ich) zur ersten Wanderung über den Besseggen zur Herberge Memurubu. Der Regen hatte, ganz entgegen der Wettervorhersage, mittlerweile aufgehört. 18 km lang schneidet der fjordartig schmale See Gjende in die Bergwelt ein, im Norden überragt vom Besseggen. Das ist Norwegens bekanntester Felsgrat und ein Wanderklassiker mit faszinierender Aussicht auf Seen, Gipfel und Gletscher. Und so war es auch: einfach traumhaft. Doch dies schätzen auch die rund 40.000, die in jedem Sommerhalbjahr über den Besseggen wandern und leider auch enorme Tritterosionen verursachen.
Am Tag 2 ging es weiter zur Herberge Gjendebu, ebenfalls am See Gjende gelegen. Der steile Auf- und Abstieg vom Vortag hatte bei mir Spuren hinterlassen – meine Muskelbewegungen hatten viel an Geschmeidigkeit verloren. Aber was soll´s, Höhe musste erneut gewonnen werden. Die fantastischen Aussichten auf die wechselnde Farbskala des Gletschersees, die Täler und die Gletscher ringsherum ließen den Schmerz vergessen. Auf die gewonnene Höhe folgte nachmittags ein steiler Abstieg, teilweise mit Ketten gesichert. Shaggy nahm ihn mit Bravour, wenngleich Oliver öfter nachhelfen musste. Während der Wanderung änderte sich die Vegetation immerzu. Der Hang war in voller Blüte. Lieblich und prächtig leuchteten Knabenkraut, Sukkulenten, Eisenhut und Enzian. Unten am See empfing uns schon fast ein Urwald aus Birken und Eisenhut, durch den sich der schmale Trampelpfad schlängelte, der zur Herberge Gjendebu führte. Sie liegt traumhaft verwunschen am Ende des Gjende. Wie alle dem Bergverein DNT angehörigen Herbergen bietet sie eine hervorragende Verpflegung, eine sehr gute Ausstattung und hat hilfsbereite, freundliche Mitarbeiter. Der einzige Wermutstropfen: Angesichts der Preise habe ich während der Wanderung auf Bier und Wein verzichtet.
Der dritte Tag war lang. 24 Kilometer rauf und runter über steiniges Gelände, über Schneefelder, durch grandiose Trogtäler und weiter über öde Geröllfelder, die kein Ende nahmen. (Darüber zu balancieren ist ein gutes Gleichgewichtstraining, habe ich mir sagen lassen. Dadurch sind die Felder aber nicht interessanter für mich geworden.) Endlich, nach zig Stunden, alle waren ausgelaugt, kam nach einer Talbiegung die Herberge Spiterstulen in Sicht, eine ziemlich großzügige Unterkunft, fast schon mit Hotelcharakter, mit großem Parkplatz, Bussen und Wohnmobilen. Nicht verwunderlich, denn sie ist der Start für die Besteigung des höchsten Gipfels Skandinaviens - Galdhøpiggen.
Das war für den vierten Tag auch unsere Absicht, aber angesichts der sehr geringen Aussicht auf Aussicht entschieden wir, uns die 1500 Höhenmeter zu ersparen. Stattdessen genossen wir mit viel Zeit das üppige Frühstück und schauten vom Panoramafenster aus den „Strebern“ beim Aufstieg zu. Passives Wandern kann auch sehr schön sein!
Gut gestärkt machten wir uns auf den Weg nach Glitterheim, einen Tag eher als geplant. Wie so oft hieß es zunächst, „erst mal wieder Höhe gewinnen“. Der Aufstieg endete auf einer weiten Ebene mit kleinen Seen, die von Bergen und Gletschern umgeben war. Stundenlang ging es über von Flechten besiedelte Gesteinstrümmer, begleitet von scharfem Wind, umgeben von Gletschern – eine abweisende und faszinierende Landschaft zugleich. Unsere Pausen verbrachten wir einigermaßen geschützt hinter großen Felsblöcken. Der Steig senkte sich schließlich in ein weiteres Tal, ein grünes, offenes, weites Gelände mit der Herberge Glitterheim. Die Herberge gefiel uns und so buchten wir zwei Übernachtungen. Den Zwischenstopp in Glitterheim nutzten wir für eine schöne, geruhsame Wanderung in der Umgebung, mit Aussicht auf den zweithöchsten Berg Nordeuropas, den Glittertinden, und das Tal. Dieses Mal ohne Shaggy, denn seine Ballen waren wund und rissig von der stundenlangen Wanderung über Gestein.
Unser letzter Wandertag hatte begonnen – abenteuerlich und abwechslungsreich. Drei in luftiger Höhe schaukelnde Hängebrücken mussten überquert und zwei Pässe überwunden werden. Wir sahen Wolken, die sich zu grandiosen, drohenden schwarzen Wänden auftürmten und wieder verzogen. Wir kreuzten satte, grüne Hochflächen und genossen die Blicke auf den fjordartigen See Russvatnet, den blauen Bessvatnet und den smaragdgrünen Gjende. Der Abstieg nach Gjendesheim eröffnete uns noch eine letzte herrliche Aussicht auf einen Teil des Jotunheimen, bevor wir in das touristische Gewusel in Gjendesheim eintauchten. Es war Samstag und ein neues Heer von Wanderern machte sich startklar für den Aufstieg zum Besseggen. Die Zivilisation hatte uns wieder.
Fotos: Sigrid Cronacher und Oliver Honrath
Kategorie:
Wandern