Klettercamp Dauphiné - Glücksgefühle
Roadtrip, Buddhismus am Berg und Entmüdungsbecken - Heiko nimmt uns mit in die französischen Alpen und berichtet über zwei Wochen Abenteuercamp.
Nun, wo die Tage kürzer werden und die Strahlen der Herbstsonne an Kraft verlieren, denke ich gerne an diesen Sommer 2018 mit seinen rekordverdächtigen Temperaturen, den unzähligen Sonnenstunden und dem Starkregen zurück. Ein Highlight dieses Sommers war, wie zu erwarten, das von Andreas organisierte Klettercamp, das diesmal nach Ailefroide in die südfranzösische Dauphiné führte.
Für mich begann das Abenteuer bereits mit der Anreise, denn der Gedanke, die 1200 km mit meinem alten Käfer zu bewältigen, hatte sich als Idee eingeschlichen und bald als kühner Plan in meinem Kopf eingenistet. Auf die Tücken der historischen Technik war ich bestens vorbereitet, doch die konstant anhaltenden 36 Grad setzten besonders mir mächtig zu, sodass ich nach zwei Tagen sommerlicher Hitze gar war und mein Hirn weichgekocht.
Und doch, wenn sich die Landschaft allmählich verändert, die ersten Berggipfel am Horizont auftauchen und sich das Auto über endlose Serpentinen die Felsmassive hinaufschraubt, spürt man, wie die Magie der Berge das Klettererherz höher schlagen lässt und für all die Strapazen entschädigt.
Schließlich verließ ich die Hauptstraße und fuhr über eine kleine, steile Straße hinauf auf 1500 m ins herrlich gelegene Vallouise-Tal mitten in das Pelvoux-Massiv. Hier, umgeben von Steilwänden, schroffen Gipfeln und dem 3946 m hohen Pelvoux, schlug die, dieses Jahr mit 9 Teilnehmern (Zwerge inbegriffen), recht kleine Gruppe ihr Camp auf.
Da „Ailefroide“ ins Deutsche übersetzt soviel wie „kühle Luft“ heißt, hüllt sich der Campingplatz mit Einbruch der Dämmerung gewöhnlich in die schweren Rauchschwaden unzähliger kleiner Lagerfeuer. Doch dieses Jahr wurde selbst Ailefroide von der Hitzewelle erfasst und seinem Namen nicht mehr gerecht, sodass das träge brennende Lärchenholz meist nur aus Gründen der Outdoor-Romantik entzündet wurde.
Bei der sommerlichen Hitze flüchteten sich die Kletterer, Andreas, Sarah, David, Gerhard und ich, sofort in die luftigen Höhen der Granitwände. Ich, als Dauphiné-Neuling, war gespannt, was mich erwarten würde, und wurde nicht enttäuscht.
Die Zustiege sind allesamt überschaubar und werden durch das reichhaltige Angebot an Walderdbeeren und wilden Himbeeren schmackhaft kurzweilig. Die Kletterei, überwiegend fair abgesicherte Plaisir-Routen in festem Granit, die mobile Sicherungen nur für das eigene Sicherheitsgefühl verlangen, bietet spektakuläre, steile Seillängen vor traumhaft schönem, alpinem Hintergrund.
Zwei 5c-Touren boten für jeden passende Seillängen zum Einklettern. Doch wer Andreas‘ Abenteuergeist kennt, weiß, dass er es zielsicher schafft, jeden aus der Komfortzone zu locken.
„Ich möchte eigentlich gerne Vierer-Routen klettern“, war Gerhards Anspruch, und doch kletterte er später souverän im sechsten Grad. „Vor der Route hab ich Schiss“, gab ich zu bedenken, „Dafür sind wir doch hier“, Andreas‘ Antwort.
Und so habe ich auch dieses Jahr richtig viel gelernt. „Präzise treten, weich greifen“, oder „Eine Route wegstehen“, lauteten die geheimnisvoll klingenden Rezepte von Andreas, die mir schon länger im Kopf herumgingen und die ich dort, zwischen den Haken, auf kleinen Tritten und runden Griffen, zu verstehen begann. Einfach mal nicht über die letzte Zwischensicherung nachdenken und sich lieber voll und ganz auf den nächsten Zug konzentrieren. Wenn es nicht weiterzugehen scheint, links und rechts suchen oder erstmal ein paar Zentimeter höher steigen. Diese für mich so schweren Disziplinen übte ich in Südfrankreich.
Und irgendwo dazwischen fand ich die Faszination des Kletterns, den Buddhismus der Berge: Denn im Fels gibt es kein Gestern und kein Morgen. Es gibt nur die vollkommene, kompromisslose Konzentration auf den Moment, das totale Verschmelzen von Körper, Geist und Natur. Eine Bewegung nach oben, ohne rationalen Sinn und doch mit einem Ziel und dem unbedingten Anspruch des Weiterkommens. Und auch, wenn das Ziel „nur“ ist, an einem Standplatz oder auf dem Gipfel anzukommen, ohne gestürzt zu sein, eine grandiose, verdiente Aussicht zu genießen, den letzten Tropfen Wasser aus der Flasche zu trinken, so lehrt dieses Hochgefühl einen doch, wie einfach das Leben sein könnte. Irgendwo in dieser Reinheit des Seins liegt das kleine und doch so große Glück des Kletterers. Und das Glück bemisst sich schließlich niemals am Sinn.
Nach einer langen, kräftezehrenden Route beschlossen Andreas und ich, etwas gegen unsere körperliche Überhitzung zu unternehmen und uns mit Todesverachtung in das kleine Becken am Rande des Zeltplatzes, gespeist von türkisfarbenem Gletscherwasser, zu stürzen. Nach dieser ca. 2 Sekunden dauernden „Nahtoderfahrung“, die Andreas vorher als „Entmüdungsbecken“ bezeichnet hatte, verschwand er nur kurze Zeit später in seinem Zelt und ward nicht mehr gesehen.
Der Höhepunkt meiner Kletterwoche war jedoch eine nahezu cleane Route, die, selbst abzusichernd, an einigen Stellen nur wenige Haken bot: „La nocturne“, 5c (6a max.), 12 Seillängen.
Als David, Andreas und ich als Einzige einstiegen, merkten wir sehr schnell, dass diese klassische Tour recht „straff“ bewertet war. Vor den Leistungen meiner beiden Kletterpartner kann ich nur den Hut ziehen! Friends, Schlingen, Reibungsplatten, Piazzrisse, Verschneidungen, Kamine – es war alles dabei. Grandiose, alpine Kletterei für Freunde des Kletterns abseits der abgegriffenen Routen. Meine ersten zwei Seillängen waren clean, mit Friends gut absicherbar und doch für mich sehr anspruchsvoll. Nass geschwitzt, war meine Wasserflasche bereits nach der halben Route leer. Und doch war es meine dritte Seillänge, gebohrt und ohne Risse oder Spalten, die mir alles abverlangte. Mehrere Meter über dem letzten Haken schien der nächste aussichtslos weit weg und die Panik zum Greifen nah. Dort kamen dann die zuvor genannten Übungen zum Einsatz, die zu meinem Erstaunen funktionierten: Atemfrequenz unter Kontrolle bringen, Entscheidung treffen, auf diese Aufgabe fokussieren. Zwei wackelige Züge hinauf und ich hatte die Seillänge in der Tasche.
In den letzten, sehr schweren Seillängen, die ich nachstieg, merkte ich dann aber doch, wie die körperliche und geistige Anspannung mich an meine Grenze brachten. Der quälend werdende Durst tat sein Übriges. Und ich bekam ein Gefühl dafür, wie sich Erschöpfung in langen, anspruchsvollen Routen anfühlt, wie es ist, wenn der Körper nicht mehr kann und der Kopf ausgebrannt ist.
Unter dunklen Wolken erreichten wir den Gipfel und verließen ihn ohne Pause beim ersten Donnerschlag. Regenjacken an und nur wenige Minuten später öffnete der Himmel seine Schleusen. „Ruhig bleiben, Stände checken, Prusik rein“ – beim Abstieg passieren die meisten Unfälle.
Wohlbehalten am Fuß der Wand angekommen, wurden wir bereits erwartet: Solidarität in den Bergen.
Was soll ich sagen? Ich wollte Abenteuer, ich habe Abenteuer bekommen. Das Klettercamp sollte meiner Meinung nach in Abenteuercamp umbenannt werden. Zwei unvergessliche Wochen mit einem waschechten Roadtrip in meinem Käfer, Frankreich vom Flachland bis in die Alpen und einer Kletterwoche mit super Leuten, Klettern, bis die Finger abfallen, Lagerfeuer, ein Bier (vielleicht auch zwei) und Gesprächen bis spät in die Nacht. Was will man mehr? Ich habe wieder einmal viel gelernt, besonders, dass man nie auslernt. Klettern ist ein Abenteuer, kontrolliertes Risiko, vor dem man nie den Respekt verlieren darf. Denn Fehler passieren und im Zweifelsfall gewinnt immer die Schwerkraft.
Kategorie:
Klettern